Barbara Grabher
Nadine Schellnegger: Events anthropozän[er] denken? Das ECoC-Programm anthropozän[er] denken?
Ein gedankliches ‚Darüber‘, das zwischen der Idylle und dem (Über-)Konsum schwebt.
Anthropozänes Denken und vor allem das anthropozäne Denken von Events ist vielleicht genau das – eine Position im Darüber und Dazwischen.
Bad Ischl/Salzkammergut als ein rurales und von Natur geprägtes Gebiet.
Eine Idylle, die gerade wegen dieser Imagination, die Massen so anzieht.
Idyllischer Massentourismus?
Paradox.
Weil Natur, Achtsamkeit, Idylle, Ruhe, Entschleunigung und die Einsamkeit im Kontrast zu dem stehen, was die Massen mit ihrer Masse erzeugen.
Genormte und geformte Perspektiven, die Imaginationen und Gedankenbilder kreieren und damit einen touristischen Anziehungspunkt schaffen.
Was bedeutet es dann, Events anthropozän[er] zu denken? Was bedeutet es Bad Ischl/Salzkammergut im Rahmen des ECoC-Programms anthropozän[er] zu denken?
Dafür braucht es die Zwischen- und Darüberperspektive!
Festzuhalten ist, dass alles zusammenhängt und nichts getrennt voneinander betrachtet werden kann.
Es geht also nicht mit und es geht nicht ohne Tourismus?
Es geht nicht mit und es geht nicht ohne?
Vielleicht geht es mit beidem? Vielleicht geht es mit keinem?
„Ein echter Bad Ischler geht nicht zum Zauner“[1] und trotzdem ist der Zauner wichtig für die Bad Ischler:innen – ein ‚Anti‘-Identitätsbaustein für Identitätenkonstrukte.
Vielleicht sollte an den Faktoren des „Nicht-mit“- und „Nicht-ohne“-Könnens festgehalten und weitergedacht werden?

Das ECoC-Programm und die Werte für die es steht, können ein Potential bieten, um anthropozäner zu werden, um sich so im Nicht-mit- und Nicht-ohne-Zwischenraum zu positionieren. Allerdings kann das Konzept, so wie es derzeit existiert nur anthropozän gedacht werden, aber nicht, zumindest in seiner derzeitigen Form, ein Event sein, welches dem Anthropozän gerecht wird.
Wie Donna Haraway schreibt, ist das Anthropozän ein Zeitalter der Dringlichkeit, der hereinbrechenden Katastrophen und der „Verweigerung von Wissen und der Kultivierung von Responsabilität“[2]. Um Events anthropozän zu denken ist daher ein bewusstes, aktives Hinwenden zu aktuellen Problemlagen und eine Verantwortungsübernahme von handelnden Akteur:innen (Programmteam, Organisator:innen, Konsument:innen, Politik, etc.) notwendig.[3] Ausformuliert könnte „anthropozänes Denken“ eine Mischung aus Perspektivenwechsel, Umsichtigkeit, Vernetzung, wirklichen und ehrlichen Nachhaltigkeiten (für Mensch und Umwelt) bedeuten. Wenn aber im Sinne sozialer Fragen, der Umwelt oder der Nachhaltigkeit gehandelt werden soll, dann braucht es keine Events (wie das ECoC-Programm), in denen Thema XY geplant und umgesetzt wird und die genannten anthropozänen Themengebiete nur eine Nebenrolle einnehmen. Events, die dem Anthropozän und all seiner „Dramatik“ gerecht werden sollen, müssen die Rollen anders verteilen und Umwelt und Nachhaltigkeit als Essenz ihrer Existenz beinhalten, um so ihre anthropozäne Daseinsberechtigung zu erhalten.

Die gedankliche Blase im Darüber als Analyseperspektive
Am Event-Beispiel „Europäische Kulturhauptstadt Bad Ischl/Salzkammergut 2024“ und den damit verbundenen Planungen, Überlegungen, Politiken, etc. lässt sich konkretisieren, was ein anthropozän gedachtes Event eigentlich ist bzw. welches Potential in dieser Begrifflichkeit steckt, welche Fragen sich auftun und in welche Richtung weitergedacht werden könnte. Wie kann ein anthropozän gedachtes ECoC-Programm der Zukunft aussehen? Kann es überhaupt ein solches Programm geben? Kann das ECoC-Programm Bad Ischl/Salzkammergut anthropozän[er] gedacht werden?
Um letztere Frage zu beantworten, gilt es zu definieren, wie anthropozän gedachte Events aussehen können. Dabei ist es mir wichtig, wie oben schon erwähnt, eine Grenze zwischen anthropozän-gerechten Events und anthropozän gedachten Events zu ziehen. In der Perspektive im Darüber befindend, versuche ich die verschiedenen Kontraste, Aspekte, Facetten, Pros der Einen und Kontras der Anderen (und umgekehrt) vernetzt zu betrachten und zusammenzudenken. Mit der Betitelung „Anthropozän gedacht“ im Kontrast zu einem „Anthropozänen Event“/„dem Anthropozän gerecht werdenden Event“ soll ausgedrückt werden, dass Events, in deren Fokus Themen wie Unterhaltung, Kunst, Kultur, etc. (die durchaus ihre Daseinsberechtigung besitzen, aber keine sozialen, nachhaltigen, umweltbewussten, etc. Inhalte im Fokus haben) sind, durch anthropozänes Denken einen Teil zur Verantwortungsübernahme im Anthropozän beitragen können. So kann durch anthropozänes Denken beispielsweise ein Rahmen um das Event gespannt werden, während „Anthropozäne Events“ Events sind, deren Inhalt per se eine „Verantwortungsübernahme“ (die in ihrer Interpretation bzw. ihrem Ausdruck unterschiedlich sein kann) darstellen – vereinfacht gesagt, deren Hauptintention nachhaltiges Handeln, Umweltgedanken, soziale Fragen sind und nicht nur mitgedachte Nebenrollen einnehmen oder verantwortungsbewusste Rahmen schaffen.

Wir brauchen mehr Utopie!
Events müssen sich neu denken lassen, oder? Zeitgemäß? Was kann daraus anderes entstehen? Wer trägt die Verantwortung und woran wird sie überhaupt festgemacht? Wie wird im Eventkontext verantwortungsvoll oder verantwortungslos gehandelt? Wer kann handeln und wer wird handlungsunfähig gemacht? Braucht es mehr? Braucht es weniger?
Die Idee der „Kulturhauptstadt Europas“ entstand Mitte der 80er Jahre, mit dem Hintergrund, die Rolle der „Kultur“ in den Fokus für die Entwicklung Europas zu stellen. Im Laufe der Jahrzehnte veränderte sich das Konzept und lässt einen dynamischen, anpassungsfähigen Charakter vermuten[4]. Wozu und in welchem Kontext braucht es eine European City of Culture in einer Zeit, in der der Kulturbegriff immer wieder als Legitimierungsinstrument für Ausschluss, Diskriminierung und Rassismus missbraucht und im gesellschaftlichen Diskurs inflationär benutzt wird und Nachrichten über Kriege, Klimakrise, Pandemie, Ungerechtigkeiten, Grenzziehungen, usw. unsere tagespolitische Nachrichtenfeeds überschwemmen? Welches Potential trägt es? Welches Potential könnte es tragen?
Das ECoC-Programm bietet womöglich einen guten Nährboden, um soziale Fragen und gesellschaftlich relevante Themen zu reflektieren (aber vermutlich nicht, um sie zu lösen – auch das gilt es anzuerkennen!). Dabei ist es allerdings (für Forschende und handelnde Akteur:innen) essentiell, tief zu bohren – sich nicht an der Oberfläche zu spiegeln und das „Augenscheinliche“ wiederzugeben, sondern durch die äußerste Haut des Konstrukts „ECoC“ durchzustechen, es kritisch zu beleuchten und sich selbst und das Programm zu reflektieren. Dabei sollten Themen wie Nachhaltigkeit, Zugänglichkeit und ein sinnvoller Nutzen für die Mehrheit unbedingt in den Fokus gerückt werden. Aktuelle Thematiken, die auch in ECoC-Programmen teilweise angeschnitten werden, sollten in dynamischen Reflexionsprozessen immer wieder analysiert und behandelt werden. So müssen Migration, Globalisierung, die „Festung Europa“, herrschende Migrations- und Grenzregime in dieser Debatte mitdiskutiert und kritisch hinterfragt werden, vor allem wenn vom „Europa der Einheit und Vielfalt“[5] gesprochen wird. Auch „städtische Entwicklung“, welche vielfach als Ziel oder Erfolg der Teilnahme einer Stadt/Region als ECoC formuliert wird, bedeutet vor allem im Sinne der Nachhaltigkeit nicht immer mehr von etwas zu schaffen. „Kulturelle Vielfalt“, welche häufig als Aushängeschild in diversen Programmen fungiert und auch im Gründungsgedanken der ECoC thematisiert wird, sollte nicht inszeniert und vermarktet werden, wenn Gruppen immer noch zu Randgruppen gemacht werden. Dabei gilt es auch die Rolle Europas in diesen Kontexten zu hinterfragen. Was ist überhaupt Europa? Wer ist überhaupt Europa? Welche aktiven und passiven Rollenzuschreibungen gibt es? Welche strukturellen und institutionalisierten Ein- und Ausschließungsmechanismen sind für wen spürbar?
Wird ernsthaft von Verantwortlichen versucht solche Diskussionen und Fragen zu behandeln und wahrzunehmen? Was passiert? Wer wird gehört? Wer oder was bleibt unsichtbar? Was wird sichtbar?
Diese Gedanken und Fragen sind nicht da, um sofort und eindeutig beantwortet zu werden. Vielmehr soll so eine Utopie erschaffen werden, die es ermöglicht ein anthropozän gedachtes ECoC-Programm zu definieren und zu imaginieren, aber auch kritisch mit der Konstruktion „Europa“ umzugehen und gegenwärtige Macht- und Unterdrückungsstrukturen auch im Eventkontext nicht auszuklammern. Mit der Unterscheidung zwischen anthropozän-gedachten Events im Kontrast zu den anthropozän-gerechten Events (Eventhropozän?) kann ein gedankliches, theoretisches Gerüst erschaffen werden, welches eine Art Orientierungs- und Kategorisierungshilfe darstellen könnte, um so auch für mehr Transparenz (nach Innen und nach Außen) zu sorgen. Im Weiteren sollte die Planung und Verwirklichung von anthropozän-gerechten Events hinsichtlich der oben erwähnten Verantwortungsübernahme befördert werden und ein Bewusstsein, auch im Bereich der handelnden Akteur:innen im Eventkontext, geschaffen werden.
[1] Spontanes Gespräch mit einem Mann (61 J.) aus Bad Ischl vor dem Café Zauner. [2] Donna J. Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt/ New York 2018, S. 54. [3] Vgl. ebda. [4] Vgl. Immler, Nicole; Sakkers, Hans (2012): Kulturhauptstadt – ein Titel von oder für Europa? Von lokaler Identitätskultur zu globaler Menschenrechtskultur, In: Ernst, Thomas; Heimböckel, Dieter (Hg.): Verortung der Interkulturalität: Die ‚Europäischen Kulturhauptstädte“ Luxemburg und die Großregion (2007), Essen für das Ruhr (2010) und Istanbul (2010). Bielefeld:Transcript, S. 283-313, hier: 283-284. [5] Gründungsgedanke „Europäische Kulturhauptstadt“. Vgl. Immler, Sakkers(2012): Kulturhauptstadt – ein Titel von oder für Europa, Bielefeld, S. 284.
Nadine Schellnegger studiert Europäische Ethnologie und Kulturanthropologie an der Karl Franzens Universität Graz. Ihre Forschungsinteressen liegen vor allem in den Themenbereichen rund um Gender-, Stadt- und Mobilitätsforschungen.